Die wahre Geschichte des Muay Chaiya
Ein Blick hinter den Mythos: Wer Muay Chaiya wirklich gegründet hat – und warum vieles davon anders war, als heute erzählt wird.
📅 2025-05-06 / 📝 2025-05-06 / 📖 MUAI / ⏱️ 14 Min.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Muay Chaiya ist kein traditioneller Stil, sondern ein nachträglich benannter Hybrid.
- Ajarn Khet war kein Lehrer, sondern ein Kommentator ohne Ringkampferfahrung.
- Muay Boran wurde in den 1990er Jahren in Berlin erfunden und nach Thailand exportiert.
Inhaltsverzeichnis
Beitragsdetails
Titel: Die wahre Geschichte des Muay Chaiya
Autor: Pahuyuth
Kategorien: MUAI
Schlagwörter: Kampfkunstgeschichte, Muay Boran, Muay Chaiya, Muay Thai, Pahuyuth, thailändische Kampfkunst
1. Einleitung
Was ist Muay Chaiya eigentlich?
Muay Chaiya wird heute oft als eine der ältesten und traditionsreichsten Formen der thailändischen Kampfkunst dargestellt. Videos zeigen tief stehende Positionen, kontrollierte Bewegungen und Begriffe wie Yahng Sam Khum oder Kru Muay Chaiya fallen im gleichen Atemzug wie „unbesiegbare Techniken aus der Vergangenheit“. Das klingt romantisch. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich vieles davon als nachträgliche Konstruktion – teilweise durch Unwissen, teilweise aus Kalkül.
Warum gibt es so viele widersprüchliche Aussagen?
Der Ursprung liegt in einer Mischung aus Halbwissen, Verehrung und bewusster Umdeutung. Verschiedene Linien innerhalb des sogenannten Muay Chaiya beanspruchen die wahre Lehre für sich. Die einen berufen sich auf körperliche Weitergabe durch Lehrer wie Thonglor Yalee. Andere auf den Einfluss von Persönlichkeiten wie Ket Sriyapai, der als vermeintlicher Bewahrer der Tradition auftritt – aber selbst nie als Kämpfer aktiv war.
Was hat das mit Pahuyuth zu tun?
Ein besonders schwerwiegender Fehler liegt in der unsachgemäßen Verwendung des Begriffs Pahuyuth. Dieser wurde von einem Schüler des Muay Chaiya zur Titelgebung eines Buches verwendet: „Pahuyuth Muay Thai“. In diesem Buch – und in späteren Artikeln – wurde behauptet, Ket Sriyapai selbst habe den Begriff Pahuyuth mit „Kampf mit den Armen“ übersetzt. Diese Interpretation sei angeblich sogar durch ein Wörterbuch der Königlichen Akademie (Ausgabe 1982) gedeckt.
Das Problem: Diese Definition ist fachlich falsch.
Pahuyuth ist kein Synonym für „Boxen mit den Armen“, sondern bezeichnet ein umfassendes System des bewaffneten und unbewaffneten Kampfes – mit klaren Begriffen, Methoden und Struktur. Die Umdeutung zu einem reinen Faustkampfstil verzerrt nicht nur die Terminologie, sondern auch die Geschichte ganzer Disziplinen.
Was als Hommage gedacht war, wurde zum Nährboden für Verwirrung. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs – aus Unkenntnis oder Marketinggründen – hat nicht nur die Wahrnehmung des Muay Chaiya verfälscht, sondern auch die des Pahuyuth entstellt.
Das „Text-Book of Pahuyuth“ von Panya Kraitus schmückt sich mit dem Namen – liefert ansonsten aber nur vage Andeutungen: ohne Technik, ohne Struktur, ohne Bezug zur tatsächlichen Freikämpfer-Tradition.
2. Historischer Ursprung des Muay Chaiya
Vom Ringkämpfer zum Regionalstil
Die tatsächliche Herkunft des Muay Chaiya liegt nicht in sagenumwobenen Königreichen oder uralten Klosterschulen, sondern in einem nüchternen, nachvollziehbaren Prozess: Ein pensionierter Ringkämpfer aus Bangkok ließ sich nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn in der südthailändischen Provinz Chaiya nieder. Dort begann er, Ringkampftechniken an die lokale Bevölkerung weiterzugeben – nicht als Repräsentant einer „alten Schule“, sondern als erfahrener Praktiker.
Sein Stil war bekannt als Muay Kraiphank – eine Form des klassischen Ringkampfs, die später durch zwei unterschiedliche Einflüsse weiterentwickelt wurde: durch Jujutsu, vermittelt über Ket Sriyapai, und durch Silat, verkörpert von Thonglor Yalae.
Unterstützt wurde besagter Ringkämpfer von einem einflussreichen Hausherrn – einem hochrangigen Beamten mit guten Verbindungen in die Hauptstadt: Ket Sriyapai. Dieser war kein Kämpfer, sondern Zivilingenieur und Regierungsbeamter. Doch als Hausherr von „Baan Chaiya“ brachte er Kämpfer aus der Provinz nach Bangkok und ließ sie dort unter dem Namen „Muay Baan Chaiya“ (Muay des Hauses Chaiya) antreten.
Zwei Linien – zwei Legenden
Einer seiner Begleiter war Thonglor Yalee, ein Praktiker mit Grundkenntnissen im Muay Thai und einem technischen Fundament, das unter anderem Einflüsse aus dem Silat enthielt. Er wurde später als „Kru Muay Chuea Chaiya“ (Lehrer des ursprünglichen Chaiya-Muay) bekannt – ein Titel, der sich aus seiner tatsächlichen Unterrichtstätigkeit und Kampferfahrung ableitete.
Demgegenüber steht Ket Sriyapai, der über theoretisches Wissen verfügte, selbst jedoch nie im Ring gekämpft hatte. Er wurde trotzdem – ebenso wie seine Schwester – später als „Kru Muay Baan Chaiya“ bezeichnet. Sein Einfluss lag weniger in körperlicher Weitergabe als in publizistischer Tätigkeit: Er verfasste Artikel, schrieb über Techniken und war Mitherausgeber der Zeitschrift Paritath Muay Thai.
Der Ursprung eines Konflikts
Während Thonglor Yalee auf praktische Kenntnisse zurückblicken konnte, beruhte Ket Sriyapais Beitrag auf Kommentierung und Interpretation. Die Spannung zwischen diesen beiden Lagern – „Muay Chuea Chaiya“ (authentisch-praktisch) und „Muay Baan Chaiya“ (intellektuell-interpretativ) – mündete in einen Kompromiss: Beide Linien wurden fortan unter dem vereinfachten Sammelbegriff „Muay Chaiya“ zusammengefasst.
Diese Vereinheitlichung war strategisch, aber nicht sauber: Sie verwischte die Grenze zwischen praxisorientierter Kampfkunst und theoretischer Überlieferung. Heute ist der Begriff „Muay Chaiya“ populär – doch sein Fundament ist nicht einheitlich, sondern historisch gespalten.
3. Ket Sriyapai – Der Mythos vom Meister
Beamter und Publizist – aber kein Kämpfer
Ket Sriyapai ist eine zentrale Figur in der Geschichte des Muay Chaiya – jedoch nicht aufgrund eigener Kampfpraxis, sondern durch seine soziale Stellung und publizistische Tätigkeit. Er war Zivilingenieur, hoher Beamter und Hausherr des Anwesens „Baan Chaiya“. In dieser Position genoss er hohes Ansehen – ein Umstand, der es sozial und kulturell ausschloss, selbst in einem Boxring zu kämpfen. Denn: Ringkämpfen galt in der damaligen Zeit als Tätigkeit der unteren sozialen Schichten.
Wer aus einer hochgestellten Familie stammte, dem wäre ein Auftritt im Ring gesellschaftlich nicht gestattet worden. Es wäre als unwürdig empfunden worden, als jemand aus der Oberschicht öffentlich körperlich zu kämpfen – erst recht gegen Angehörige niedrigerer Klassen.
- Muay Thai war historisch die Kampfkunst des einfachen Volkes, der Soldaten, Leibeigenen, Hafenarbeiter, Tagelöhner und später der Berufskämpfer. Es war eine körperliche Disziplin mit engem Bezug zu Überleben, Arbeit und Wettkampf.
- Die Oberschicht (Adlige, Beamte, gebildete Klassen) nahm in der Regel nicht aktiv an körperlichem Nahkampf teil – zumindest nicht öffentlich. Für sie galt königlicher Schwertkampf (Krabi Krabong) oder das Studium klassischer Literatur und Verwaltung als angemessen.
- Ein hochgestellter Beamter wie Ket Sriyapai, mit gesellschaftlicher Stellung und Einfluss, wäre nie in einem öffentlichen Ringkampf aufgetreten. Das hätte seinen sozialen Rang untergraben – nicht nur durch die körperliche Auseinandersetzung an sich, sondern auch durch das gleichgestellte Duell mit Männern niederen Standes.
- Vielmehr war es in solchen Kreisen üblich, Kämpfer zu fördern, zu betreuen oder zu präsentieren, aber nicht selbst zu kämpfen. In dieser Rolle wirkte Ket Sriyapai – nicht als Lehrer durch Tat, sondern als Vermittler durch Status und Wort.
Der „Lehrer“ ohne Unterricht
Obwohl Ket Sriyapai nie als Kämpfer aktiv war, wurde er später als „Kru Muay Baan Chaiya“ (Lehrer des Haus-Chaiya-Muay) bezeichnet. Doch dieser Titel resultierte nicht aus praktischer Unterweisung, sondern aus seiner Rolle als Ratgeber und Kommentator. Er hatte Unterricht bei einem Lehrer namens Kim Seng erhalten, der Muay mit Jujutsu-Elementen lehrte – doch laut dessen Urteil reichten Ket Sriyapais Fähigkeiten nicht einmal für den Einstieg in den Ring.
Tatsächlich ist überliefert, dass selbst seine Familie und sein Umfeld keine aktive Beteiligung an Kämpfen unterstützten. Stattdessen wirkte er eher als Vermittler und Mentor aus dem Hintergrund, der Kämpfer förderte und begleitete, aber nicht selbst unterrichtete.
Der Titel „Ajarn“ – akademisch, nicht kämpferisch
Der weit verbreitete Ehrentitel „Ajarn“ (Dozent, Lehrer) wurde Ket Sriyapai aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit verliehen – nicht wegen einer nachweisbaren Lehrpraxis im Muay. Als Autor in der Wochenzeitschrift Paritath Muay Thai veröffentlichte er regelmäßig Artikel über Techniken, Geschichte und Konzepte. Dies verschaffte ihm intellektuelles Renommee, das jedoch nicht mit praktischer Qualifikation verwechselt werden darf.
Sein erklärtes Ziel war es, ein Standardwerk über Muay zu schaffen – ein didaktisch strukturiertes Lehrbuch, das zur Referenz werden sollte. Diese Idee übernahm später sein Schüler Panya Kraitus, der das Buch „Pahuyuth Muay Thai“ verfasste – und dabei nicht nur den Begriff „Pahuyuth“ fachlich falsch verwendete, sondern eben auch Sriyapai zu einer Lehrerfigur erhob, die er praktisch nie war.
Zwischen Status, Schreibarbeit und Selbststilisierung
Der Mythos um Ket Sriyapai ist das Produkt eines sozialen Missverständnisses, das Theorie mit Praxis, Kommentar mit Unterricht, und Status mit Qualifikation verwechselt. Als Kommentator mag er verdientermaßen Anerkennung finden – als Lehrer oder gar Großmeister ist diese Zuschreibung faktisch nicht gedeckt.
Wer den Unterschied zwischen einer traditionellen Kampfkunst und einer romantisierten Erzählung erkennen will, kommt an dieser Einsicht nicht vorbei: Ket Sriyapai war kein Kämpfer. Er konnte es sich gesellschaftlich nicht leisten – und er war es auch fachlich nicht.
In seinem Spätwerk versuchte Ket Sriyapai einige Dinge richtig zu stellen.
4. Zwei Linien, zwei Richtungen
Jujutsu oder Silat – was ist das „wahre“ Chaiya?
Was heute unter dem Namen „Muay Chaiya“ bekannt ist, ist in Wahrheit ein Sammelbegriff für mindestens zwei klar unterscheidbare Entwicklungslinien, die jeweils unterschiedliche technische Einflüsse und Trainingsphilosophien repräsentieren:
- Die Linie von Ket Sriyapai (Muay Baan Chaiya) ist geprägt von Einflüssen aus dem Jujutsu – einem japanischen Nahkampfstil, den er über seinen Lehrer Kim Seng kennengelernt haben soll. Diese Linie ist theorielastig, formalisiert und auf Ästhetik und Struktur ausgelegt.
- Die Linie von Thonglor Yalae (Muay Chuea Chaiya) hingegen ist geprägt von Silat, einer südostasiatischen Kampfkunst, die besonders in Malaysia und Indonesien verbreitet ist. Diese Linie ist körperbetont und basiert zumindest in Grundzügen auf gelebter Erfahrung.
Beide Richtungen wurden unter dem Begriff „Muay Chaiya“ zusammengefasst – doch sie haben wenig bis nichts miteinander zu tun. Die technische Basis, die Bewegungsprinzipien und die Vermittlungsmethoden unterscheiden sich grundlegend.
Scheitern im Ring
Ein gemeinsames Problem beider Linien ist jedoch entscheidend: Keine von beiden verfügte über echte Ringkampferfahrung auf professionellem Niveau.
Weder Ket Sriyapai noch Thonglor Yalae traten je in einem Stadionkampf an – der eine aus sozialen, der andere wohl aus praktischen Gründen. Auch ihre jeweiligen Schüler waren kaum in der Lage, sich im modernen Ringkampf zu behaupten.
Dieses Fehlen von echter Kampfpraxis führte zu einer Entwicklung in die Sackgasse:
Was überliefert wurde, war formalisierte Bewegung ohne Anwendungskontext. Der Bezug zur realen Kampferfahrung, zum physischen Druck, zur Anpassung im Wettkampf – all das fehlte.
Die Folge: Muay Chaiya – gleich aus welcher Linie – konnte bislang nicht mit echten Ringkampfstilen konkurrieren. Es blieb in seiner eigenen Welt – als Stil der alten Herren, der Theoretiker oder der Traditionalisten.
5. Die Erfindung des „Muay Boran“
Vom Devisenproblem zur Kampfkunst
In den frühen 1990er Jahren stand der thailändische Muay-Thai-Tourismus unter Druck: Die Einnahmen aus dem Ausland gingen zurück. Thirachai Premthai, ein Muay-Thai-Lehrer aus Thailand, suchte deshalb nach einem Weg, das Kampfsystem für westliche Zielgruppen attraktiver zu machen. In diesem Zusammenhang trat er mit einer ungewöhnlichen Bitte an die Freikämpfer des Pahuyuth in Berlin heran: Er bat um Hilfe bei der Beschaffung von Devisen aus dem Ausland.
Die Antwort fiel pragmatisch aus – und hatte weitreichende Folgen.
Ein Pahuyuth-Lehrer schlug vor, dem für viele westliche Touristen zu harten und sportlich geprägten Muay Thai ein traditionelles, „kulturell anmutendes“ Gewand zu verleihen. Die Idee: Ein „altes Muay“ für ein neues Publikum, ähnlich wie Yoga seinen Weg in Wellness und Lifestyle gefunden hatte.
Der Export einer Idee – Made in Berlin
Premthai wurde ein Auszug aus einem damaligen Muai-Lehrbuch gezeigt: „Die thailändische Kampfkunst: Muai Thai – Weißgurt“ von 1984. Dieses Werk enthielt überlieferte Techniken, Konzepte und Bewegungsmuster aus dem traditionellen Muai, die im modernen Wettkampfsport aufgrund sportlicher Reglementierungen und Einschränkungen längst keine Anwendung mehr fanden.
Mit diesem Input kehrte Thirachai Premthai nach Thailand zurück – im Gepäck: die Idee eines „alten Muay Thai“, das es als solches vorher nicht gegeben hatte. Er scharte eine wirtschaftlich orientierte Interessengemeinschaft um sich und begann, das sogenannte „Muay Boran“ (übersetzt: „altes Muay“) aufzubauen.
Das Muai-Lehrbuch von 1984 – überliefertes, didaktisch strukturiertes Wissen, das zur Inspiration für das spätere Konzept „Muay Boran“ wurde.
Show, Stil und Zweck des Muay Boran
Das neu konstruierte Curriculum basierte lose auf:
- vage erinnerten Techniken aus dem oben genannten Pahuyuth-Lehrbuch,
- klassischen Muay-Thai-Techniken, die im modernen Ringkampf nicht mehr zugelassen waren,
- stilisierten Bewegungsformen und theatralischen Elementen
- fantasievollen Namen aus der Ramakiern-Sage – einer höfischen Dichtung, die erst im 19. Jahrhundert populär wurde.
Vieles wurde dabei falsch kombiniert oder – mangels tatsächlichen Verständnisses – gar nicht erst übernommen. Ergänzt wurde das Ganze durch ein willkürlich gewähltes Graduierungssystem, das Stufen, Prüfungen und Gebühren beinhaltete – nicht zur Qualitätskontrolle, sondern zur gezielten Monetarisierung. Es etablierte eine künstliche Hierarchie mit klarer Einnahmestruktur, denn das lukrative Geschäft mit Wettkämpfen und Wetten blieb dem Muay Thai vorbehalten.
Muay Boran war somit von Anfang an kein historisch überlieferter Stil, sondern ein kulturelles und wirtschaftliches Produkt – konzipiert für den internationalen Export. Visuell ansprechend, kulturell stilisiert und ökonomisch verwertbar – aber ohne praktische Relevanz im Ring. Genau deshalb war es perfekt geeignet für Touristen, Folkloreinteressierte und Showbühnen.
Ablehnung eines Lehrstuhls
In den Folgejahren wurde das Konstrukt Muay Boran sogar so erfolgreich, dass thailändische Universitäten versuchten, das Thema zu institutionalisieren. Anfragen, einen offiziellen Lehrstuhl für Muay Thai bzw. Muay Boran zu übernehmen, lehnte der beteiligte Pahuyuth-Lehrer jedoch ab. Der Grund: Der Ursprung des Muay Boran war rein pragmatisch, nicht authentisch. Die Wahrheit sollte nicht durch akademische Etiketten verschleiert werden und ein Lehrer hatte schlichtweg „besseres zu tun“.
Fazit
Man könnte sagen: Muay Boran ist kein kulturelles Erbe, sondern ein Exportartikel – konzipiert in Berlin-Kreuzberg, vermarktet in Thailand, konsumiert im Westen. Es war die Antwort auf eine wirtschaftliche Herausforderung – und wurde, wie so vieles, weltweit als „original thailändische Tradition“ verkauft.
Die Blücherstraße in Berlin-Kreuzberg – der Geburtsort des Muay Boran
6. Tradition oder Täuschung?
Wenn aus Marketing Geschichte wird
In der Rückschau ist eines offensichtlich: Vieles, was heute als „Tradition“ im Zusammenhang mit Muay Chaiya oder Muay Boran vermarktet wird, ist historisch nicht belastbar. Die Erzählung von überlieferten Techniken, alten Systemen und geheimem Wissen ist häufig das Ergebnis gezielter Narrative, nicht tatsächlicher Kampfkunstpraxis.
Ein markantes Beispiel:
Die heute vielfach zur Schau gestellte Praxis des „Muay Kaad Chuek“ – also das Kämpfen mit Seilumwicklungen statt Handschuhen – wird oft als traditionelles Merkmal antiker Kampfkunststile präsentiert. Doch diese Darstellung hält einer historischen Prüfung nicht stand.
Tatsächlich ist diese Praxis:
- nicht durchgängig überliefert,
- literarisch romantisiert,
- und entstand ursprünglich als Ersatzlösung für fehlende Boxhandschuhe, bevor Letztere im Zuge der Modernisierung (z. B. in der Suan-Gulab-Ära) aus England importiert wurden.
Was heute als „antik“ gilt, war früher schlicht praktisch oder provisorisch. Der Seilverband diente weder als Erkennungszeichen eines Stils noch als sakrale Tradition – sondern schlicht als Notwendigkeit in Zeiten mangelnder Schutzausrüstung.
Fehlinterpretierte Begriffe, fehlende Kampfrealität
Ein weiteres Beispiel ist die übernommene Schrittarbeit „Yahng Sam Khum“, die in Muay Chaiya-Videos gerne als stilprägend hervorgehoben wird. Sie stammt nicht aus Muay Chaiya selbst, sondern aus dem Pahuyuth, wo sie korrekt als Teil des Bewegungssystems zur Dreieckssteuerung gelehrt wird.
Im Fall von Ket Sriyapai wurde jedoch nur ein Teil dieses Bewegungskonzepts übernommen – der untere Abschnitt der Technik. Der systemische Kontext und die Anwendungslogik fehlten. Dennoch wurde die Bewegung ästhetisiert, in Standbilder zerlegt und als „authentisch“ vermarktet.
Ein Freikämpfer-Lehrer des Pahuyuth reagierte seinerzeit sogar mit einem förmlichen Warnbrief (จ.ม. เตือน) an Ket Sriyapai – eine letzte Erinnerung daran, dass Entlehnung ohne Kontext nicht Wissen, sondern Täuschung ist.
Das „gefahrlose Dreieck“ – die Grundstellung des Pahuyuth
7. Fazit: Zwischen Aufrichtigkeit und Aufgesetztheit
Wer ist wirklich „Kru“ – und wer spielt nur Lehrer?
Die Analyse der Ursprünge und Entwicklung des Muay Chaiya zeigt ein klares Bild:
Was heute oft als überlieferte Kampfkunst aus grauer Vorzeit dargestellt wird, ist in Wahrheit das Produkt von sozialem Stand, fehlender Kampferfahrung, Marketinglogik und romantisierender Rückprojektion.
Ket Sriyapai, eine zentrale Figur der sogenannten „Muay Baan Chaiya“-Linie, war kein Kämpfer, kein Ausbilder, kein Lehrer im Sinne des praktizierenden Wissensvermittlers.
Sein Beitrag bestand in Artikeln, Kommentaren und der strukturellen Förderung – nicht in körperlicher Weitergabe von Können.
Sein Titel als „Kru“ (Lehrer) war symbolisch und sozial, nicht funktional.
Die Linie von Thonglor Yalae, die als „Muay Chuea Chaiya“ bezeichnet wird, verfügte zumindest über gewisse praktische Anteile, konnte sich aber ebenfalls nicht in der Arena bewähren.
Beide Linien scheiterten an der Übersetzung von Theorie in ringtaugliche Anwendung.
Über das Wesen eines echten Lehrers
In der Welt der Kampfkunst bedeutet der Begriff „Kru“ (Lehrer) nicht „jemand, der sich dafür hält“ oder „jemand, dem Respekt gezollt wird“.
Er bezeichnet ausschließlich jemanden, der sein Wissen aus echter Erfahrung weitergegeben hat.
Ein echter Lehrer ist:
- ein Praktiker, der getan hat, wovon er spricht
- ein Vermittler, der andere zu eigener Erkenntnis führt
- ein Zeuge, dessen Autorität aus dem Handeln kommt, nicht aus der Behauptung
Ket Sriyapai erfüllte keines dieser Kriterien. Die inflationäre Verwendung des Begriffs „Kru“, gepaart mit akademischer Selbstverklärung, ist eine Verzerrung der Bedeutung dieses Titels.
Akademisierung statt Authentizität?
Die spätere Entwicklung hin zu „Muay Boran“ verstärkte dieses Muster:
Techniken wurden aus ihrem Kontext gelöst, Bewegungen theatralisiert, Begriffe umgedeutet. Der Ursprung war kommerziell – die Verpackung traditionell.
Als später sogar die Möglichkeit bestand, einen Lehrstuhl für Muay Boran an thailändischen Universitäten zu etablieren, wurde dies von den Pahuyuth-Freikämpfern aus Prinzip abgelehnt.
Nicht aus Geringschätzung, sondern aus Wahrung der Wahrheit.
Wer ehrlich fragt, was Muay Chaiya wirklich ist, muss mit einer ehrlichen Antwort leben:
Muay Chaiya ist keine unveränderte Kampfkunsttradition.
Es ist ein Sammelbecken für Narrative – mit wenig Kampf und viel Geschichte.
Nur wer wirklich unterrichtet hat, kann „Kru“ genannt werden
Ehre, wem Ehre gebührt – und nur dann
In der Welt der traditionellen Kampfkünste ist der Begriff „Kru“ (Lehrer) nicht verhandelbar. Er ist keine Auszeichnung, kein höflicher Titel, kein Marketingbegriff – sondern ein Ausdruck tiefster Anerkennung für jemanden, der sein Wissen aus eigenem Erleben an andere weitergegeben hat.
Ein „Kru“ ist jemand, der:
- selbst gekämpft hat,
- selbst trainiert hat,
- selbst gelehrt hat,
- und dabei nicht sich selbst, sondern die Weitergabe des Wissens in den Mittelpunkt stellt.
Wer diese Anforderungen nicht erfüllt, ist kein Kru – auch wenn er so genannt wird.
Und wer sich trotzdem so bezeichnet, stellt sich selbst über die Bedeutung, die dieser Begriff verdient.
- Der Titel „Ajarn“ (Oberlehrer, Dozent) ist in der buddhistischen Weltanschauung jemandem vorbehalten, der tiefes Verständnis in einem bestimmten Bereich besitzt – nicht bloß Meinungen.
- Der Titel „Pramajarn“ (Großmeister) ist eine Inszenierung, die eher auf die Leinwand eines Kung-Fu-Films als in die Realität einer funktionalen Kampfkunst gehört.
Wem es ernst ist mit Authentizität, der fragt nicht nach Kleidung, Titeln oder Show – sondern nach dem Weg, den jemand gegangen ist, und nach der Erfahrung, die er bereit ist zu teilen.
Muay Chaiya ist an sich kein reines Märchen. Aber vieles, was darüber erzählt und gelehrt wird, ist pure Fiktion. Und wer sich durch diese Fiktion hindurcharbeitet, findet vielleicht das, worum es wirklich geht: Wahrhaftigkeit im Handeln.