Wai Kru - die traditionelle Lehrerbegrüßung
Der „Wai Kru“ bzw. die „Lehrerbegrüßung“ ist ein Ritual mit dem Schüler ihren Dank gegenüber verstorbenen, unerreichbaren oder unbekannten Lehrern ausdrücken.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Traditioneller Gruß an verstorbene, unerreichbare oder unbekannte Lehrer, niemals an Lebende
- Pflicht für Grüngurte, symbolisiert Freiheit und Unabhängigkeit durch die breite Sitzhaltung.
- Enthält versteckte Kampftechniken, die beim Ausführen mittrainiert werden.
Inhaltsverzeichnis
Beitragsdetails
Titel: Wai Kru - die traditionelle Lehrerbegrüßung
Autor: Pahuyuth
Schlagwörter: Gleichheit, Kampfkunst, Lehrergruß, Pahuyuth, Respekt, Ritual, Schwerttanz, Schülerstatus, Tradition, Wai Kru
Wai Kru – die traditionelle Lehrerbegrüßung
Wissen ist kostbar. Besonders jenes, das hilft, körperliche Unversehrtheit und das eigene Überleben zu bewahren, ist für diejenigen, die es benötigen, von unschätzbarem Wert.
Einem lebenden Lehrer für die Vermittlung von Kampfkunstwissen zu danken, ist einfach. Man geht zu ihm oder ihr und sagt schlicht: „Danke!“. Weitaus schwieriger hingegen ist es, jenen Wissensvermittlern Dank auszusprechen, die bereits verstorben, nicht erreichbar oder persönlich unbekannt sind.
Die alten Pahuyuth-Lehrer entwickelten zu diesem Zweck ein nichtreligiöses Ritual bzw. eine Geste mit dem Namen „Wai Kru“ – auch bekannt als „Lehrerbegrüßung“ oder „Lehrergruß“. Dieses Ritual wird im Rahmen der traditionellen Pahuyuth-Kampfkunstvermittlung bis heute gelehrt und praktiziert.
Die Fähigkeit, den Lehrergruß korrekt auszuführen und seine Herkunft sowie Bedeutung zu erklären, ist eine der Voraussetzungen, um den Pahuyuth-Schülerstatus (Grüngurt) zu erlangen.
Der Lehrergruß wird üblicherweise nach jedem Training und am Lehrergedenktag ausgeführt. Einige traditionelle Tänze (z. B. Ram Muai, Ram Dab) beinhalten ebenfalls Elemente dieses Rituals.
Ein Gruß und Dank an die Lehrer – mehr als nur eine Tradition.
Durchführung
Die traditionelle Lehrerbegrüßung wird in sitzender Position ausgeführt. Der Dank des Schülers äußert sich dabei üblicherweise in vier aufeinanderfolgenden Bewegungen:
Unterschiede zur Thailändischen Kultur
In der thailändischen Kultur genießen Lehrer einen besonderen Stellenwert. Im alten Siam war Bildung für alle Menschen außerhalb der königlichen Familie nahezu ausschließlich in buddhistischen Tempeln zugänglich. Dort fungierten Mönche zugleich als Lehrer und Respektspersonen. Aus diesem Umstand entwickelte sich eine hierarchisch geprägte Gesellschaft, in der Wissen mit Überlegenheit gleichgesetzt und entsprechend verehrt wurde.
Die Kultur der Pahuyuth-Freikämpfer hingegen entstand aus dem Widerstand gegen Unterdrückung und Sklaverei. Im Verständnis des Pahuyuth sind daher alle Menschen gleich – niemand hat das Recht, sich über andere zu erheben.
Ein Lehrer im Sinne des Pahuyuth ist deshalb niemals ein „Meister“ oder „Herrscher“ über seine Schüler, sondern stets ein einfacher, erfahrener Kämpfer und Mensch, der sein Wissen bereitwillig und mit empfehlendem Charakter weitergibt. Aus diesem Grund wird der traditionelle Wai Kru (Lehrergruß) auch niemals gegenüber einem lebenden Lehrer ausgeführt.
Da das Pahuyuth bereits lange vor dem heutigen Thailand und dem damaligen Siam existierte, ist anzunehmen, dass der traditionelle Lehrergruß ursprünglich dem Pahuyuth bzw. der Wissenslehre des Saiyasart entstammt und erst später kulturell adaptiert wurde.
Knie zusammen oder auseinander?
Wie im oben verlinkten Video und in den Bilder zu sehen ist, wird der Pahuyuth-Lehrergruß grundsätzlich im breitbeinigen Sitzen ausgeführt. Diese Position basiert zum einen auf der unterschwelligen Vermittlung von Kampfwissen (siehe unten), zum anderen auf der im Kämpfereid gelehrten V-Position der Füße – einem Symbol für Gleichheit unter Menschen.
Der schulterbreite Stand mit den Händen auf dem Rücken, der das Ritual abschließt, steht wiederum für gelebte Freiheit, Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit eines jeden Pahuyuth-Freikämpfers.
Ein Lehrergruß in dieser Form galt – und gilt – in der hierarchisch geprägten Kultur Thailands als Affront, da er als Ausdruck von Ungehorsam, mangelnder Demut und fehlender Unterwürfigkeit verstanden wird. Beim thailändischen Wai Khru, insbesondere am Königshof, wird das Ritual daher traditionell mit geschlossenen Beinen und größtmöglicher Demut ausgeführt.
Die konsequente Weigerung der Pahuyuth-Freikämpfer, den Wai Kru in dieser Weise anzupassen, führte in der Vergangenheit mehrfach dazu, dass sie Ziel sozialer, politischer und religiöser Verfolgung wurden.
Warum wir diese Tradition bewahren
„Wer seinen Lehrern dankt, soll dafür auch etwas erhalten“ – so oder so ähnlich dürften die alten Pahuyuth-Lehrer möglicherweise gedacht haben, als sie den Lehrergruß entwickelten.
Tatsächlich haben sie in den Bewegungen der Lehrerbegrüßung zahlreiche Kampftechniken und Konzepte verborgen, die mit jeder Ausführung dieses Rituals automatisch mittrainiert werden. Für Angehörige des Pahuyuth, die in der Lage sind, diese Hinweise zu entschlüsseln, ist die Lehrerbegrüßung daher weit mehr als eine bloße Tradition, die nur um ihrer selbst willen bewahrt wird.
Im Folgenden drei einfache Beispiele für solche versteckten Hinweise der alten Lehrer:
1. Dreiecksprinzip
Die Lehrerbegrüßung wird in der Regel in kniender Haltung ausgeführt. Dabei bilden die beiden Knie und die zusammengelegten Füße ein gleichschenkliges Dreieck. Mindestens drei Punkte sind nötig, um eine geometrische Fläche zu erzeugen – und damit eine stabile Basis. Wie stabil diese Sitzposition tatsächlich ist, lässt sich leicht testen, indem man sich in ihr nach vorne, zur Seite oder nach hinten neigt.
Ein praktisches Anwendungsbeispiel für dieses Prinzip findet sich bei Knietechniken im Clinch: Die beiden Füße des Gegners und das eigene Standbein bilden dabei eine stabile Unterstützungsfläche, ähnlich dem Prinzip der Lehrerbegrüßung.
2. Knie am Boden
Die Auflagefläche der Knie während der Lehrerbegrüßung zeigt deutlich, wo sich die härteste Stelle des menschlichen Knies befindet. Eine Abwehr mit genau diesem Bereich – etwa gegen Schienbein-Kicks – ist für den Anwender in der Regel besonders sicher. Umgekehrt entfalten gezielte Angriffe mit dieser Zone eine besonders verheerende Wirkung.
3. Die 4/5 Armstreckung
Bei korrekter Ausführung der Lehrerbegrüßung werden die Ellenbogen nicht weiter als bis zu vier Fünfteln ihrer möglichen Länge gestreckt.
Diese Position entspricht im Pahuyuth der maximal effektiven Reichweite bei Faustschlägen. Schläge, bei denen der Arm vollständig durchgestreckt wird, übertragen deutlich weniger Kraft auf das Ziel – und bergen zudem das Risiko, das Ellenbogengelenk durch die beim Aufprall wirkenden Kräfte zu beschädigen.
Aus diesem Grund wird ein vollständiges Ausstrecken des Arms im Pahuyuth grundsätzlich vermieden.
Weitere versteckte Prinzipien
Die oben genannten Beispiele sind lediglich die Spitze des Eisbergs – bei weitem keine vollständige Aufzählung. Es existieren zahlreiche weitere versteckte Hinweise und Prinzipien, die die alten Lehrer im Lehrergruß hinterlassen haben.
Pahuyuth-Schüler entdecken und erlernen diese Inhalte im Laufe ihrer Ausbildung. Sie erweitern damit nicht nur ihr technisches Verständnis, sondern drücken durch die regelmäßige Ausführung der Lehrerbegrüßung auch ihren Dank für das an sie übermittelte Wissen aus.