Traditionelle Medizin: China versus Thailand
Was trennt – und was eint – die traditionelle chinesische und thailändische Medizin? Ein Blick auf Ursprung, Systematik und moderne Integration.
📅 2025-04-12 / 📝 2025-04-12 / 📖 SART BAMBATGAY / ⏱️ 12 Min.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Westliche Medizin führte in beiden Ländern zu einem drastischen Bedeutungsverlust traditioneller Heilmethoden.
- TCM und TTM wurden durch staatliche Förderung rehabilitiert und in nationale Gesundheitssysteme integriert.
- Beide Medizinsysteme unterscheiden sich grundlegend in Theorie, Diagnostik und kulturellem Kontext.
Inhaltsverzeichnis
Beitragsdetails
Titel: Traditionelle Medizin: China versus Thailand
Autor: Pahuyuth
Kategorien: SART BAMBATGAY
Schlagwörter: Gesundheitssysteme, Sart Bambatgay, TCM, TTM, Traditionelle Chinesische Medizin, Traditionelle Medizin, Traditionelle thailändische Medizin, WHO ICD-11, chinesische Heilkunst, medizinischer Kulturvergleich, thailändische Heilkunst
Traditionelle Medizin im Vergleich: China und Thailand
Traditionelle Medizinsysteme wie die chinesische (TCM) und die thailändische (TTM) prägen bis heute den Gesundheitsalltag in weiten Teilen Asiens. Trotz ihrer geografischen Nähe unterscheiden sie sich in Ursprung, Philosophie und Methodik fundamental. Dieser Beitrag analysiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen TCM und TTM, stellt historische Entwicklungen dar und liefert eine Einschätzung über deren heutige Relevanz im globalen Gesundheitssystem.
1. Herkunft und gesetzliche Verankerung
Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)
Die Ursprünge der Traditionellen Chinesischen Medizin reichen weit zurück – sie werden in mythischen Überlieferungen mit der legendären Kulturgestalt Fu Xi in Verbindung gebracht (traditionell auf ca. 2593 v. Chr. datiert), auch wenn es sich hierbei nicht um eine historisch belegte Figur handelt. In ihrer akademischen Ausformung begann die TCM jedoch erst in der späten Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) Gestalt anzunehmen. Das medizinische Grundlagenwerk Huangdi Neijing (Innerer Klassiker des Gelben Kaisers) gilt bis heute als Eckpfeiler des Systems.
TCM ist zutiefst mit den philosophischen Strömungen des Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus verwoben – insbesondere mit der Vorstellung von Gleichgewicht und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Über Jahrhunderte hinweg entwickelte sich ein eigenständiges medizinisches System mit einem komplexen theoretischen Fundament, das Konzepte wie Yin-Yang, Wuxing (Fünf-Elemente-Lehre), Jingluo (Meridianlehre) und differenzierte Diagnostikmethoden umfasst.
Die historische Entwicklung der TCM verlief in mehreren Phasen. Während der Jin- und Tang-Dynastien (3.–9. Jh.) kam es zu einem bedeutenden wissenschaftlichen Austausch mit Ländern wie Indien, Japan und den arabischen Regionen. Die Erfindung des Buchdrucks im Song-Zeitalter (10.–13. Jh.) ermöglichte die weite Verbreitung medizinischen Wissens. Spätestens ab dem 14. Jahrhundert fand chinesische Medizin über diplomatische und kommerzielle Kanäle auch Eingang in Europa und die Amerikas.
- Ursprünge reichen über 2500 Jahre zurück (Fu Xi, Huangdi Neijing).
- Tief verwurzelt in Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus.
- Entwicklung eines komplexen akademischen Systems ab der Warring-States-Periode.
- Später internationale Verbreitung durch Drucktechnologie und Kolonialkontakte.
Traditionelle Thailändische Medizin (TTM)
Im Gegensatz zur TCM ist die sogenannte Thai Traditional Medicine (TTM) ein synthetisches System, das im Laufe der Jahrhunderte durch Adaption, Selektion und Anpassung aus verschiedenen Quellen entstand. Ihre heutige Form basiert auf einer Kombination aus indischer Ayurveda-Lehre, buddhistischer Ethik, lokaler Volksmedizin und chinesischen Elementen.
Wichtig: Die ursprünglich überlieferte Volksmedizin Thailands ist nicht identisch mit TTM. Die alten Heilkundeformen (siehe Sart Bambatgay) waren tief verwurzelte, spirituell bewanderte Heil- und Erfahrungslehren (siehe Saiyasart), die auf eine bis zu 4500-jährige Überlieferungstradition zurückblicken (siehe Pahuyuth) und heutzutage als separate Wissensdisziplinen betrachtet werden können. Während TTM stärker systematisiert und staatlich kodifiziert wurde, stellt unter anderem das Sart Bambatgay die historische Urform traditioneller Heilkunst nach völkischen Überlieferungen dar.
Die gesetzliche Definition der TTM erfolgte erst spät: Mit dem „Protection and Promotion of Thai Traditional Medicine Wisdom Act“ (B.E. 2542 / 1999) wurde sie offiziell als System medizinischer Verfahren zur Diagnostik, Behandlung und Prävention anerkannt. Dazu zählen unter anderem auch Geburtshilfe, Thai-Massage, die Herstellung traditioneller Medikamente sowie der Bau medizinischer Instrumente.
Ein für die TTM bedeutsamer historischer Wendepunkt war die Zerstörung Ayutthayas 1767 durch die Burmesen. Um verlorenes Heilwissen zu rekonstruieren und für die Nachwelt zu sichern, veranlassten König Rama I bis III die Inschrift von über 1000 Heilrezepten und medizinischen Lehren auf Marmorplatten in den Tempeln Wat Pho und Wat Raja Oros. Diese öffentlich zugänglichen Inschriften sollten sowohl der Volksbildung als auch der medizinischen Selbstversorgung dienen. Zu beachten ist hierbei, dass es sich sowohl bei dem verloren gegangenen Wissen in Ayutthaya als auch bei den Rekonstruktionen unter König Rama I bis III um höfisches Wissen handelte, welches aufgrund höfischer Etikette und formaler Gepflogenheiten nur einen Teil der eigentlichen Volksmedizin enthielt.
Trotz aller Bemühungen seitens der Krone führte die schrittweise Einführung westlicher Medizin durch Missionare und Kolonialkontakte seit dem 19. Jahrhundert zur Verdrängung der traditionellen Medizin aus dem formalen Bildungssystem. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer staatlich gestützten Renaissance.
- Ein Teil der vormals praktizierten traditionellen Volksmedizin Thailands war das Wissen des Sart Bambatgay – eine Heilkundeform, die außerhalb des heutigen TTM-Systems überliefert wurde.
- TTM, wie sie heute definiert ist, stellt ein hybrides System dar: Ayurveda, Buddhismus, chinesische Einflüsse und lokale Heilpraktiken wurden selektiv übernommen, angepasst und systematisiert.
- Gesetzlich definiert im „Protection and Promotion of Thai Traditional Medicine Wisdom Act“ (1999).
- Systematisierung über königliche Initiativen, insbesondere durch Inschriften in Tempeln (Wat Pho).
2. Theoretische Systeme im Vergleich
Obwohl sowohl die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) als auch die Traditionelle Thailändische Medizin (TTM) den Anspruch erheben, ganzheitlich zu sein, unterscheiden sich ihre theoretischen Grundlagen in fast allen wesentlichen Punkten. Die TCM basiert auf einem dualistischen Weltbild, das von den Prinzipien Yin und Yang sowie der Fünf-Elemente-Lehre (Wuxing) getragen wird. Gesundheit entsteht hier durch das harmonische Zusammenspiel dieser polaren Kräfte und der Elemente Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall. Ergänzt wird dieses Verständnis durch das Meridiansystem (Jingluo), das als energetisches Netzwerk im Körper verstanden wird und Grundlage für Behandlungen wie Akupunktur und Moxibustion bildet. Krankheiten gelten in diesem System als Ausdruck innerer oder äußerer Disharmonien, die durch gezielte Regulation wieder ins Gleichgewicht gebracht werden sollen.
Im Gegensatz dazu lehnt sich die TTM stark an die ayurvedische Philosophie an, interpretiert diese aber durch die Brille des theravada-buddhistischen Weltverständnisses. Die Gesundheit des Menschen wird hier durch das Gleichgewicht der vier Elemente (Tards) – Erde, Wasser, Wind und Feuer – bestimmt. Jedes Individuum besitzt eine dominante Konstitution, das sogenannte „Tard-Chao-Ruan“, das sich aus astrologischen Faktoren wie dem Zeitpunkt der Empfängnis ableitet. Hinzu kommen spirituell-mystische Aspekte, wie der Einfluss von Ahnengeistern, übernatürlichen Kräften und kosmischen Bewegungen, die bei der Diagnostik ebenso Berücksichtigung finden wie körperliche Symptome. Krankheiten werden daher nicht nur somatisch, sondern auch karmisch oder energetisch verstanden, was die Therapieformen entsprechend beeinflusst.
In ihrer Gesamtheit spiegeln beide Systeme das jeweilige kulturelle Selbstverständnis ihrer Herkunftsländer wider: rational-dynamisch strukturiert und systematisierend bei der TCM, symbolisch-intuitiv und stark spirituell durchdrungen bei der TTM. Ein direkter Vergleich ist daher zwar möglich, erfordert jedoch ein hohes Maß an kultureller Differenzierung und Kontextbewusstsein.
Bereich | TCM | TTM |
---|---|---|
Grundprinzipien | Yin & Yang, Wuxing (Fünf Elemente), Jingluo (Meridiane) | Vier Elemente („Tards“): Erde, Wasser, Wind, Feuer + astrologische Aspekte |
Weltbild | Mensch als Teil des Kosmos, Krankheit durch Disharmonie | Gesundheit als Gleichgewicht individueller Elemente, kosmische Einflüsse |
Diagnostik | Vier Methoden: Beobachten, Hören/Riechen, Befragen, Puls | Kombination aus Anamnese, körperlicher Untersuchung, Astrologie |
Therapieansätze | Kräuter, Akupunktur, Moxibustion, Qigong | Kräuter, Thai-Massage, Dampfbäder, Kompressen |
3. Moderne Entwicklung und staatliche Rehabilitierung
Die Entwicklung der traditionellen Medizin im 20. Jahrhundert war in China wie in Thailand stark von politischen Eingriffen, westlichem Einfluss und internationalen Organisationen wie der WHO geprägt. Beide Länder durchliefen Phasen der Unterdrückung, dann der Wiederanerkennung und schließlich der systematischen staatlichen Rehabilitierung ihrer traditionellen Heilmethoden – allerdings mit sehr unterschiedlichen Motiven und Ergebnissen.
China: Politischer Wandel und Wiedererstarken der TCM
In der Volksrepublik China begann der massive Bedeutungsverlust der TCM bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Machtübernahme durch die Nationalisten (KMT) wurde 1929 gar die Abschaffung der chinesischen Medizin gefordert. In der Anfangszeit der Volksrepublik wurde die TCM als rückständig angesehen und aus vielen medizinischen Einrichtungen verdrängt. Erst in den 1950er-Jahren – insbesondere ab 1954 – vollzog die Zentralregierung eine Kehrtwende und rief zur Rettung und Förderung der TCM auf. Die Gründung von Universitäten und Fachkliniken sowie die Integration von TCM in das nationale Gesundheitssystem wurden staatlich gefördert.
Nach dem kulturellen Kahlschlag während der Kulturrevolution (1966–1976), bei dem auch TCM-Ärzte verfolgt und ihr Wissen ausgelöscht wurden, erfolgte ab 1979 ein systematischer Wiederaufbau: Die Gründung der Staatlichen Verwaltung für TCM, die Wiederveröffentlichung klassischer Texte und die Aufnahme der TCM in internationale Klassifikationen wie die ICD-11 der WHO markieren den politischen und akademischen Rehabilitationsprozess.
Thailand: WHO-Druck, Tourismusinteressen und eine rekonstruierte Heilkunde
In Thailand wurde das überlieferte Heilwissen noch rigoroser unterdrückt. Mit dem „Medical Act B.E. 2466“ (1923) und dem „Control of the Practice of the Art of Healing Act B.E. 2479“ (1936) wurde das Praktizieren traditioneller Methoden gesetzlich verboten. Dies führte – ähnlich wie bei den traditionellen Kampfkünsten – zu einem systematischen Verlust ganzer Wissensbereiche.
Erst auf Druck der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 1978 im Rahmen der „Alma-Ata-Deklaration“ zur Integration traditioneller Heilmethoden in die nationale Primärversorgung aufrief, wurde eine kontrollierte Rückkehr der traditionellen Medizin ermöglicht. Ab den 1980er-Jahren startete die thailändische Regierung ein staatlich koordiniertes Rehabilitierungsprogramm, das zwei Hauptziele verfolgte:
- Schaffung einer legalen Einkommensquelle für einfache Bevölkerungsschichten (z. B. als Alternative zur Prostitution),
- Aufbau eines vermarktbaren Gesundheitstourismus für internationale Gäste.
Das Resultat war eine stark vereinfachte und touristisch vermittelbare Neufassung der Traditionellen Thai-Medizin (TTM) und der „Nuad Thai“ (Traditionellen Thai-Massage), in der viele ursprüngliche Inhalte – insbesondere aus dem spirituell-diagnostischen Bereich – nicht mehr enthalten sind, weil sie wesentliche Bereiche der ursprünglichen Volksmedizin unberücksichtigt lassen. Diese neu konzipierten Lehrpläne beinhalten lediglich Fragmente des ursprünglichen Wissens. Schätzungen zufolge decken heutige Lehrpläne nur einen Bruchteil des historischen Wissens ab – einige sprechen von deutlich unter 10 %, insbesondere im Bereich psychologischer, spiritueller und diagnostischer Verfahren.
Ganze Themenbereiche wurden aus pragmatischen, politischen, gesellschaftlichen oder touristischen Gründen ausgelassen, verschleiert oder gar nicht erst aufgenommen. Der Begriff „traditionell“ wurde neu besetzt – was heute als TTM gilt, ist in vielerlei Hinsicht eine rekonstruierte Form, die primär auf pragmatische, sicherheitspolitische und touristische Anforderungen zugeschnitten wurde – mit entsprechend begrenztem Bezug zur vormals praktizierten Volksmedizin.
Ein vergleichbares Muster zeigt sich auch im Umgang mit traditionellem Kampfwissen.
Was heute unter „Muay Thai“ im Sport bekannt ist – oder unter dem Begriff „Muay Boran“ für Vorführ- und Folklorezwecke vermarktet wird – ist ebenso ein modernisiertes, stark fragmentiertes Abbild ursprünglicher Kampfsysteme (siehe Muai bzw. Ling Lom).
Muay Thai, wie es heute weltweit praktiziert wird, ist eine sportliche Ableitung des Muai, die durch Beschränkung und technische Reduktion für den Wettkampf im Ring entwickelt wurde. Es handelt sich um ein reglementiertes Kampfsystem, das sich seit dem frühen 20. Jahrhundert etablierte, eine eigene Kultur und rituelle Symbolik (z. B. Wai Khru, Mongkon) entwickelte und heute als Teil des nationalen Erbes Thailands gilt. Als sportliche Disziplin erfüllt es eine eigenständige Funktion – hat aber mit den vormals praktizierten Kampfsystemen nur begrenzte inhaltliche Überschneidungen.
Anders verhält es sich mit dem, was heute unter dem Namen „Muay Boran“ vermarktet wird. Diese Bezeichnung suggeriert eine Rückkehr zu alten Kampfkünsten, tatsächlich handelt es sich jedoch um moderne Rekonstruktionen, die aus wenigen erhaltenen Fragmenten zusammengesetzt wurden. Techniken, Rituale und Konzepte wurden selektiv übernommen, bruchstückhaft systematisiert oder gänzlich neu interpretiert, während wesentliche Inhalte – wie etwa Waffenkampf, Grifftechniken oder Bodenkampf – verloren gingen oder bewusst ausgelassen wurden.
Das Resultat ist ein inkonsistentes Konstrukt, das eher ästhetisch-folkloristischen und wirtschaftlich-touristischen Zwecken dient als der authentischen Vermittlung vollständiger Kampfkunsttradition oder dem Erhalt kulturellen Erbes.
Die Parallele ist eindeutig: In beiden Fällen entstand durch politische Steuerung und ökonomische Interessen eine staatlich kodifizierte Tradition, die sich auf historisches Erbe beruft, dabei aber primär auf wirtschaftlich relevante und touristisch vermarktbare Inhalte fokussiert – mit teils nur losem Bezug zur ursprünglichen Überlieferung.
Dennoch: Die staatliche Förderung der TTM war überaus effektiv. Institutionen wie das „Department for the Development of Thai Traditional and Alternative Medicine“ (DTAM) wurden geschaffen, Strategiepapiere wie der „Nationale Entwicklungsplan für Thai-Wissen und Heilkunde (2007–2011)“ verabschiedet, und Nuad Thai wurde 2019 sogar von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt – ein symbolischer, aber keineswegs inhaltlicher Ritterschlag.
Aspekt | TCM (China) | TTM (Thailand) |
---|---|---|
Wiederbelebung | Nach SARS 2003, durch staatliche Gesundheitsstrategie | Ab 1978, infolge WHO-Aufruf zur Einbindung traditioneller Medizin |
Zuständige Behörde | Staatliche Verwaltung für TCM (seit 1988) | DTAM – Department of Thai Traditional and Alternative Medicine |
Gesundheitspolitik | Gleichstellung mit westlicher Medizin, Fünf Entwicklungsprinzipien | Fünf Strategien, u. a. Wissenssicherung und Ressourcenpflege |
4. Bedeutung und internationale Perspektiven
Die weltweite Bedeutung traditioneller Medizinsysteme hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen – nicht zuletzt aufgrund wachsender Kritik an der Technologisierung der Schulmedizin, zunehmender Nebenwirkungen pharmazeutischer Präparate und einer globalen Rückbesinnung auf naturbasierte, präventive Gesundheitsstrategien. In diesem Kontext gewinnen sowohl die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) als auch die Traditionelle Thailändische Medizin (TTM) zunehmend an Sichtbarkeit und Akzeptanz – sowohl in der klinischen Praxis als auch auf politisch-institutioneller Ebene.
Ein wichtiger Meilenstein war die Aufnahme traditioneller Medizinsysteme in die 11. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese Entscheidung bedeutete nicht nur eine symbolische Aufwertung, sondern schafft auch eine standardisierte Grundlage für die internationale Anerkennung, Erforschung und Integration traditioneller Heilmethoden in moderne Gesundheitssysteme. Besonders die TCM profitierte davon – sie gilt heute als weltweit am besten dokumentiertes und systematisch erfasstes traditionelles Medizinsystem.
Auch wirtschaftlich bieten TCM und TTM erhebliches Potenzial. Die Integration in den Gesundheitstourismus – insbesondere in Form von Spas, Detox-Kuren, Kräutertherapien, Akupunktur und Thai-Massage – hat sich zu einem milliardenschweren Marktsegment entwickelt. Besonders Thailand hat diese Entwicklung strategisch genutzt: Wellness-Angebote auf Basis der (reformierten) TTM werden gezielt für ein internationales Publikum vermarktet, unterstützt durch staatliche Qualitätssiegel, UNESCO-Titel und internationale Zertifizierungsprogramme.
Parallel dazu steigt das weltweite Interesse an Naturheilkunde, ganzheitlicher Gesundheitsvorsorge und individueller Eigenverantwortung. Immer mehr Menschen suchen nach Alternativen zur apparategestützten Schulmedizin – nicht als Gegensatz, sondern als sinnvolle Ergänzung. In diesem Spannungsfeld positionieren sich TCM und TTM als praxiserprobte Systeme mit dem Anspruch auf lange Überlieferung und einem traditionellen Verständnis von Körper, Geist und Umwelt.
Ein weiterer relevanter Aspekt ist der interkulturelle Austausch zwischen China und Thailand, der nicht nur durch gemeinsame historische Wurzeln, sondern auch durch politische und wirtschaftliche Partnerschaften begünstigt wird. Während China über ein weitverzweigtes Ausbildungssystem und Forschungseinrichtungen im Bereich TCM verfügt, bietet Thailand mit seiner touristischen Infrastruktur und der weltweiten Popularität von Nuad Thai einen attraktiven Marktzugang. Die Kombination beider Stärken – wissenschaftliche Systematisierung auf der einen und praktische Anwendbarkeit auf der anderen Seite – könnte langfristig zu einer strategischen Allianz im Bereich der traditionellen Medizin führen, die über Südostasien hinaus Wirkung entfaltet.
- Die WHO hat TCM in die 11. Version der ICD (International Classification of Diseases) aufgenommen.
- Integration in den Gesundheitstourismus zeigt wirtschaftliches Potenzial (z. B. Spa, Wellness, Detox).
- Interesse an Naturheilkunde, Eigenverantwortung und alternativen Heilmethoden steigt weltweit.
- Der interkulturelle Austausch zwischen China und Thailand wird als strategischer Vorteil gesehen.
Fazit
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und die Traditionelle Thailändische Medizin (TTM) stehen sinnbildlich für den globalen Spagat zwischen überliefertem Heilwissen und moderner Systemmedizin. Trotz völlig unterschiedlicher Ursprünge, Weltbilder und Methodologien eint beide Systeme ein bemerkenswerter Weg: vom Bedeutungsverlust unter dem Druck westlicher Medizin zurück zur staatlichen Anerkennung, internationalen Integration und wirtschaftlichen Verwertung. Heute sind sie nicht nur medizinisch relevant, sondern auch kulturell identitätsstiftend und wirtschaftlich strategisch.
Doch bei aller Rehabilitierung darf nicht übersehen werden, dass große Teile des ursprünglichen Wissens unwiederbringlich verloren gegangen sind – durch Verbote, Entwurzelung, Kommerzialisierung und akademische Fragmentierung. Gerade deshalb ist jede Initiative, die sich mit der Dokumentation, Kontextualisierung oder Wiederentdeckung dieses Erbes befasst, von unschätzbarem Wert.
Ob in Archiven, Klöstern, in der Arbeit einzelner Heiler oder durch internationale Forschungskooperationen – jede Handlung, die traditionelles Wissen bewahrt, schützt auch kulturelle Souveränität und bietet der Welt alternative Denkmodelle für Gesundheit, Prävention und Heilung.
Weiterführende Quellen
(Ausgewählte Belege aus WHO-Berichten, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und historischen Dokumenten)
- Chinesische Wikipedia zu legendären Medizin-Ursprüngen (kritische Diskussion der Fuxi/Shennong-Mythen) ZH.WIKIPEDIA.ORG
- National Library of Medicine (USA): Einführung in die Geschichte der chinesischen Medizin (Huangdi Neijing, Shennong als „Vater der Medizin“) NLM.NIH.GOV
- He, Ke (2015). Vergleichende Studie TCM und TTM. Complementary Therapies in Medicine, 23(6), 821–826. DOI: 10.1016/j.ctim.2015.10.003 – wichtige Quelle für Ursprung (Fu Xi, Warring States) PMC.NCBI.NLM.NIH.GOV
, philos. Einflüsse PMC.NCBI.NLM.NIH.GOV , Entwicklung beider Medizin-Systeme, Revival-Daten etc. - Alma-Ata Deklaration 1978, Punkt VII (Integration traditioneller Praktiker in Primary Health Care) CDN.WHO.INT
- WHO/Thailand: Timeline zur Wiederbelebung der TTM (1979 Siriraj-Konferenz, 1982 Foundation, 2002 DTAM-Gründung) PMC.NCBI.NLM.NIH.GOV PMC.NCBI.NLM.NIH.GOV
- WHO Pressemitteilung 2025: ICD-11-Update mit TM-Modul für Ayurveda/Unani WHO.INT; WHO Bericht zur ICD-11-Einführung traditioneller Medizin (Zitat Meilenstein) PMC.NCBI.NLM.NIH.GOV
- UNESCO (2019). Nomination file no. 01452 for inscription on the Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity: Nuad Thai, traditional Thai massage. Link zur Quelle (UNESCO)