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Meine ersten Schritte in die Welt des Pahuyuth
Autor: Hypoventilator | Datum: 15.03.2021
Ich habe mich entschlossen, hier ein wenig über meine Erfahrungen im Pahuyuth zu schreiben. Eventuell dient es dem einen oder anderen als Inspiration. Und für mich ist eine sehr schöne Erinnerung, auf die ich gerne zurückblicke.
Alles begann am Sonntag, dem 20. Oktober 2019. Ich suchte im Internet ursprünglich nach Lethwei (burmesisches Boxen) und fand über Google dann die Pahuyuth-Schule in Berlin. Die Webseite war ansprechend, wenn auch die Inhalte irgendwie recht “weird” und leicht befremdlich auf mich wirkten. Es war kein Muay Thai und irgendwie auch nichts, was ich sonst so kannte, aber ok. Also schickte ich eine E-Mail raus und meldete mich zu einem Probetraining am darauffolgenden Tag an. Trainingsklamotten, Boxbandagen eingepackt und abends auf den Weg zur Kampfkunstschule gemacht. Ich erwartete ein wenig Aufwärmübungen, Sandsacktraining und evtl. ein bisschen Sparring.
Auf dem Weg dorthin gingen mir allerhand Gedanken durch den Kopf. Ich war motiviert und relativ sicher: Das wird ein easy Training. Ein wenig “Boxi, boxi” lernen, mein Kampfkunstrepertoire erweitern und Spass haben. Nach einem Jahr intensivem Systema- und Aikido-Training fühlte ich mich konditionell fit, topfit! Na ja, erstens kommt es anders und zweitens als man … na ja, ihr wisst schon.
Oben angekommen im 5. Stock ging es direkt in die Umkleidekabine. Die Stimmung war locker und alle freuten sich auf das Training. Ich wickelte mir meine 2,5 Meter x 5 cm langen Boxbandagen um die Handknöchel, „na ja geht ja hier ums Thaiboxen lernen“, dachte ich. Die anderen Schüler zogen sich weiße Schlafanzüge an und wickelten sich gelbe, grüne oder weiße Gurte* um die Hüfte.
Die Schutzkleidungen, Schienbeinschoner und so, werden bestimmt irgendwo im Trainingsraum liegen, passt schon. Selbstbewusst mit meinen Wattebauschbandagen betrat ich den Trainingsraum, mein Blick wanderte herum und ich suchte verzweifelt die angenehmen Matten auf dem Boden, auf denen wir dann mit dem Training beginnen könnten. Ich sah nichts als harten Holzboden*.
*Anmerkung: Es gibt generell keine Matten im Pahuyuth! Weiche Matten vermitteln ein falsches Sicherheitsgefühl. Man gewöhnt sich ganz schnell falsche Abrollbewegungen an, die auf weichen Matten zwar wunderbar funktionieren, aber auf hartem Asphalt unter Umständen komplett failen. Durch das trainieren auf hartem Boden bekommt man direktes, sehr sauberes, hartes Feedback, ob man die Technik (jeweils angepasst an die eigenen individuellen körperlichen Gegebenheiten) richtig ausführt oder nicht. Wenn eine Roll- oder Falltechnik weh tut, dann wurde sie technisch einfach falsch ausgeführt. Der Boden ist der beste Freund der Ling-Lom-Menschen. Siehe Video …
Ein Schlafanzugsmensch* mit einem blauen Gurt schwirrte durch den Raum. Er sah asiatisch aus, und da ich einige Jahre in Südostasien verbracht hatte, sprach ich ihn erstmal auf thailändisch an. Verdutzt schaute er mich an und antwortete nur, dass ich auch in deutsch mit ihm sprechen könne. Er fragte mich, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hätte und gab mir die Empfehlung, in Zukunft am besten 2 Stunden vor dem Training nichts mehr zu essen. (Auf dem Weg zum Training hatte ich noch eine Banane gefuttert, aber dazu später mehr.) Es wär sinnvoll, die Bandagen abzuwickeln, ich würde sie hier generell nicht brauchen. Ich erklärte ihm, dass diese nötig wären und sie meinen angeknacksten Finger, eine Verletzung die ich mir beim Aikido zugezogen hatte, stabilisieren würden. Meinen Dickkopf wollte ich dem Moment, warum auch immer, durchsetzen. Den musste ich in den nächsten Monaten dann noch so einige Male hinhalten. In diesem Fall allerdings wäre ich fast von der Wand gefallen/gerutscht bei einer der kommenden Übungen.
Ich stellte mich kurz bei den anderen Gelbgurten vor, die teilweise schon in der Hocke wippend, sich gruppiert hatten. Der Blaugurt kam mit einem Haufen von Zetteln und verteilte sie an uns. Darauf stand “Leistungsqualifikation Klasse 1”*. Hmm, so schwer kann das nicht sein, dachte ich mir. Es wurde ausführlich erklärt, wie man die Übungen macht und was einzuhalten wäre. Alle waren beim Begutachten der Zettel, legten ihre Stifte bereit und ich versuchte zu verstehen was jetzt eigentlich auf mich zukommen sollte. So leicht in mich versunken schiesst es auf einmal von rechts: “ACHTUNG, MACHT”. Kennt ihr die Erdmännchen, die ihren Kopf bei Gefahr so nach oben strecken? So in etwa muss ich ausgesehen haben, als die Schallwellen** bei mir in den Ohren ankamen.
**Anmerkung
Den Sinn erkannte ich erst viel später. Das Gefühl angeschrien zu werden, verursacht in der Regel einen Schockmoment, man ist handlungsunfähig und Ängste werden getriggert. Um dem entgegenzuwirken, ist der Ton bewusst während der 30 Übungen oder bei den LQMs lautstark und ruppig.
Die erste Übung des LQM 1
Übung 1: Auf dem Rücken liegen, Beine 45° halten. Ellenbogen wechselweise über die Körpermitte schlagen. 75-100. Dauer: 5 Minuten
Übergenau versuchte ich die Übung durchzuführen. Spannung im Körper und los. 75–100 Wiederholungen sind in den 5 Minuten gefordert. “Ahh, da geht doch noch viel mehr”, dachte ich mir. Also rauchte ich mich erstmal schön konditionell gleich in der ersten Übung auf. Und wieder erschienen die seltsam lauten Schallwellen, diesmal von links mit “UND STOPP”.
Eine Minute Pause. Stolz wie Bolle, gleich 140 Wiederholungen geschafft und mit dem Zettel rumgewedelt. Irgendwie will man ja zeigen, dass man schon was kann. Meine schwarzen Faustbandagen wurden währenddessen langsam immer feuchter. Der Blaugurt nickte nur und ich versuchte, meine Konzentration auf die kommende Übung zu lenken.
Die zweite Übung
Übung 2: Einbeinige Kniebeuge. 60-75 Wiederholungen. Dauer: 5 Minuten
Ok, hier werden 60–75 Wiederholungen in 5 Minuten gefordert. Kniebeugen – gut, kann ich. Einbeinige, hmm keine Ahnung, muss ich ausprobieren. Mehr oder weniger schlingelte ich mich durch die Kniebeugen mit leichter Hilfe von der Wand, an der ich meine Finger aufsetzen konnte, um nicht ständig umzufallen. Konditionell ging es jetzt langsam bergab. Die Dinger pumpten. Meine Oberschenkel brannten wie Feuer.
Nach der 62. Wiederholung erklang recht laut in meinen Ohren “UND STOPP”. Schnell die wohl hoffentlich richtig gemerkte* Wiederholungsanzahl aufs Blatt gekrakelt. Ich hatte den Drang, alle Viere von mir strecken zu wollen, um runterfahren zu können. Immerhin hat man hier 2 Minuten Pause. Da kam der Tipp, besser aufzustehen und sich ein wenig zu bewegen. So leicht schummerig wurde mir dann schon beim aufstehen. Meine Faustbandagen fühlten sich mittlerweile an wie vollgesogene Schwämme.
Anmerkung: Eine der versteckten Übungen bei den LQMs ist es, selbst unter körperlichen Grenzbelastungen weiter einen klaren Kopf zu behalten.
Die dritte Übung
Übung 3: Liegestütze mit dem Rücken an der Wand. 60-75 Wiederholungen. Dauer: 5 Minuten
60–75 Wiederholungen innerhalb von 5 Minuten. Kopfstand ok. Irgendwie schaffte ich es an die Wand und legte los. 6-7-8-9-10, dann runter kurz auf die Beine und weiter. Mein Kreislauf machte sich deutlicher bemerkbar. Bei Wiederholung 20 oder so wäre ich beinahe von der Wand gerutscht und ich sah dann doch endlich ein, dass die Faust Tapes eher hinderlich waren. Also die Dinger schnell runtergewickelt – ich brauchte sie nie wieder –, dabei Sternchen vor Augen und es wurde immer dunkler. Kurz in die Hocke und weiter. Nach dem “UUUND WECHSEL” direkt in die nächste Übung …
Die vierte Übung
Übung 4: Tiefe Liegestützposition halten. Dabei Ellenbogen seitlich in den Brustkorb drücken. Nur Hände und Füße berühren den Boden. Dauer: 5 Minuten
Ok, spätestens hier dachte ich mir, ich bin irgendwo falsch abgebogen. In Liegestützposition kurz über dem Boden schwebend halten. Ja klar, fünf Minuten lang. Nach 30 Sekunden sackte der Körper durch und ich verschnaufte für ein paar Sekunden. Dann wieder hoch. Mein Kopf rot leuchtend, unkontrollierte Pressatmung. Ich drehte den Kopf nach rechts und sah, dass es den anderen Gelbgurten auch nicht viel besser erging. Ich weiss nicht, was sie dachten, aber sie sahen nicht glücklich aus, so überhaupt nicht glücklich.
Nach einer weiteren halben Minute klatschte ich wieder wie ne Robbe auf den Boden. Ich legte den Kopf kurz zur Seite und suchte gedanklich schon nach der Tür durch die ich hier reingekommen war. Aber jetzt aufgeben, nee auf keinen Fall. Konnte nochmal 25 Sekunden drauflegen. Das “UND STOPP” vom Blaugurt hatte ich dann kaum mehr wahrgenommen. Schnell die eingebildeten 55 Wiederholungen aus der dritten Übung eingetragen und ne grobe Schätzung aus der vierten Übung. Drei Minuten Pause.
Die fünfte Übung
Übung 5: „Thailändische Liegestütze“. Beine nach hinten ziehen, einen Liegestütz machen und zurück. 60-75 Wiederholungen. Dauer: 5 Minuten
Ich versuchte fünf Minuten lang diese Körperakrobatik hinzu bekommen und hätte ich das nicht bei den anderen gesehen, wäre es für meine Wahrnehmung ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Auf den Fingerspitzen die Beine überkreuz unter den Oberkörper hindurch, um dann Liegestütze auf den Fingerspitzen (!) zu machen und alles Retour. Leicht frustriert vernahm ich ein “UUUND WECHSEL” und es ging direkt in die nächste Übung …
Die sechste Übung
Übung 6: Hände auf den Boden stützen und Körper schräg an der Wand halten. Körper bleibt gerade durchgestreckt. Dauer: 5 Minuten
Meine Arme vibrierten und zitterten, die Hände schwitzten und rutschten ständig weg. Nach einer Minute verließ mich meine Kraft und ich plumpste mal wieder wie ein nasser Sack runter. Wieder aufgerafft, langsam bemerkte ich einen leicht bitteren Bananengeschmack in meinem Mund. Ich unternahm noch einige Versuche bis zum “UUUND STOPP”. Da waren sie wieder, die weissen Sternchen, nur wurde es dunkler um mich herum, viel dunkler.
Null Wiederholungen bei den thailändischen Liegestützen und ne geschätzte Zeit an der Wand, kritzelte ich frustriert aufs Papier. Mittlerweile waren knapp 40 Minuten vergangen und ich fühlte mich, als ob ich 3 Marathons hintereinander gelaufen wäre. Vier Minuten Pause. Ich schaute mich um und die anderen Teilnehmer sahen ähnlich aus. Ich fragte mich, wieviel Gelbgurte hier wohl schon das Essen beim trainieren wieder auf dem Boden verteilt hatten, aber verwarf den Gedanken schnell wieder und wusste nicht, ob ich weinen, lachen oder einfach aufgeben sollte. Emotional war ich mittlerweile wohl ein wenig durcheinander.
Die siebte Übung
Übung 7: Liegestütze mit dem Bauch an der Wand. 60-75 Wiederholungen. Dauer: 5 Minuten
In den Handstand an die Wand krabbeln und halten, vorgegeben sind 5 Minuten und 60–75 Liegestütze nebenher über Kopf. Daran war kaum mehr zu denken. Die Arme zitterten und wackelten, mein Kreislauf spielte verrückt und der 3. Black Out kündigt sich an.
Die achte Übung
Übung 8: Flach dem Rücken liegen, Hände hinter den Kopf und Beine in einem 45° Winkel halten. Dauer: 5 Minuten
Hier nochmal alle Kräfte gesammelt. Systema Atemtechnik benutzt – hörte sich für alle anderen wohl eher an, als ob ich versuchen würde ein Kind zu gebären. Egal, die 3 Minutenmarke* geschafft. Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub und meine Trainingsklamotten waren von oben bis unten nass, als ob ich ne Stunde im Monsunregen gestanden habe. “UUUUND WEEECHSEL”
Anmerkung: Generell gilt bei statischen Übungen mit Zeitvorgabe, dass mindestens drei von den fünf Minuten erreicht werden müssen, um die Übung als bestanden gewertet zu bekommen.
Die neunte Übung
Übung 9: Hände auf den Rücken nehmen und in der Hocke laufen. Dabei gleichmäßiges Tempo halten. Dauer: 5 Minuten.
Direkt in die Hocke, Hände hinter den Rücken, Oberkörper aufrecht und Entengang-Hüpfen. Jetzt wurden die letzten Energiereserven angezapft. In dem Fall war es wirklich geteiltes Leid, Durchhaltekrächzen aus jeder Richtung. Nach weiteren fünf Minuten vernahm ich “UUUND STOPP”. Dieses mal hörte es sich für mich nach Engelsgesang an. Die Tortur war geschafft.
Nach dem LQM
Völlig neben mir stehend trug ich meine Zeiten ein. Bei der ersten der drei Übungen konnte ich mich nicht mehr an die Wiederholungszahl erinnern, also liess ich diese einfach frei. Unterschrift drunter und waamms, ich legte mich kurz direkt neben das Blatt. Mein Mund trocken wie die Wüste, die Zunge pappig, mein Magen drehte sich. Ich entschied mich, doch besser aufzustehen und in den Umkleideraum zu gehen, um etwas zu trinken.
Total benommen kam ich an. Die 1-Liter-Mineralwasserflasche wog gefühlt 50 kg. Endlich schaffte ich es bis zu meinen Lippen, trank einen Schluck, setzte die Flasche ab und legte mich einfach in die 6qm Umkleidekabine. Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, alles druselte, verschwomm und mir kam es reichlich unrealistisch vor.
Der Vorhang ging auf, ich noch immer liegend auf dem Rücken, ein Rotgurt stand vor mir und fragte nur: “Alles ok meen Jung?”. Mehr als ein “bwwppprrgsssss, äääh, bbbbmmmsssllllll” brachte ich nicht mehr zustande. Kurze Zeit später kam ein Grüngurt dazu und ich wurde zu einem Fenster gebracht, um meinem Körper Luft zuführen zu können. Mein gesamter Körper fuhr runter, mein Blutdruck ging in den Keller und ich dachte ernsthaft, ich kratz ab.
Also, das ihr alle das hier noch lesen könnt beweist, ich habe es überlebt. Dennoch frage ich mich heute, wie ich es dann noch schaffte, mich aufzuraffen, in den Raucherraum zu gehen und eine weitere zweite Stunde Technikteil mit zu machen.
Aber mehr dazu beim nächsten Mal …